36th Vilnius Jazz Festival. 12-16 October, 2022

Praesentation zeitgenoessischer Spielarten improvisierter Musik Vilnius'91

Bernd JAHNKE
 

Das Jazzfestival von Vilnius erlebte seine vierte Auflage unter etwas veraenderten Vorzeichen. Zum ersten Mal fand die dreitaegige Veranstaltung in der wenige Wochen vor Festivalbeginn unabhaengig gewordenen Republik Litauen statt. Sicher hat auch dieses Festival als kulturelle Begegnungsstaette zwischen Ost und West einen bescheidenen Beitrag im friedlichen Kampf zur Wiedererlangung der litauischen Unabhaengigkeit leisten koennen. Bei der Programmgestaltung blieb Organisator Antanas Gustys auch diesem Jahr dem bisher eingeschlagenen Weg treu: Praesentation zeitgenoessischer Spielarten improvisierter Musik, vor allem aus Europa.

Einmal mehr machte das Festival deutlich ueber welch kreatives Potential die litauische Jazzszene verfuegt. Unter der Leitung von Vladimir Tarasov fanden sich Anfang 1991 etwa zehn litauische Musiker der juengeren Generation zum Lithuanian Jazz Project zusammen. In Vilnius wurde hoerbar, dass daraus mittlerweile ein homogener Klangkoerper gewachsen ist, der sich an aktuellen Ausdrucksformen freier Musik orientiert und den Vergleich mit Formationen aehnlicher Groese wie etwa dem Globe Unity Orchestra nicht zu scheuen braucht. Ideenreich verstanden es die Musiker, die Kompositionsvorlagen von Tarasov mit Leben zu erfuellen und in freier Improvisation in differenzierte Klangbilder umzusetzen. Ein weiteres litauisches Grossprojekt, das aufhorchen liess, gruppierte sich um das Trio des Gitarristen (und Posaunisten) Juozas Milasius, des Pianisten (und Violinisten) Tomas Kutavicius und des Schlagzeugers Dalius Naujokaitis. Frei improvisiertes kompromissloses Powerplay, irgendwo auf Knitting Factory-Niveau, ohne in einen undefinierbaren Klangbrei zu versinken, wechselte mit leiseren, von geraeuschhaften Elementen durchsetzten Passagen ab, somit stimmungsvolle Kontraste schaffend. Saxophonist Petras Vysniauskas erbrachte einmal mehr den Nachweis, dass er zu den Ausnahmeerscheinungen nicht nur der litauischen Szene zu rechnen ist, er findet sich in den unterschiedlichsten Konstellationen bestens zurecht. Im Duo mit der Vokalistin Veronika Povilioniene, bei dem Saxophon und Stimme auf aussergewoehnliche Weise miteinander kommunizierten, kamen eher lyrische Stimmungen auf. Einige weitere osteuropaeische Gruppen sorgten ebenfalls fuer eine Bereicherung des Festivalprogramms, wie das estnische Quartett Tunetusuksus, vier junge Musiker, denen stilistische Einengungen offenbar fremd sind und die eigene Ausdrucksformen gefunden haben. Es gelang ihnen, ihren teilweise umgebauten Instrumenten bizarre, mitunter geraeuschhafte Klaenge zu entlokken. Noch einen Schritt weiter in diese Richtung geht die lettische Gruppe ZGA, die fast voellig auf den Einsatz herkoemmlicher Instrumente verzichtet und mit ihren selbsterfundenen und gebauten Tonerzeugern ein hochintensives Soundgewitter entfachte und in Dimensionen vorstiess, die jenseits jeglicher Kategorisierung zu suchen sind. Eine spannende Mischung aus Free Jazz und mit Elementen oestlicher Folklore durchsetzter Musik praesentierte das Duo des in Bulgarien lebenden russischen Saxophonisten Anatoly Vapirov, dessen mitunter hymnisch anmutendes Spiel zuweilen an Albert Ayler erinnert, und des rumaenischen Pianisten und Perkussionisten Harry Tavitian, der sich an rumaenischer und armenischer Volksmusik orientiert. Ebenfalls stark von oestlicher, in diesem Fall orientalischer Musiktradition durchsetzt war das Zusammentreffen des tatarischen Gitarristen Enver Izmailov und des tuerkischen Perkussionisten Burhan Oecal. Der in vielerlei Hinsicht gemeinsame kulturelle Hintergrund wirkte sich beim zweiten Aufeinandertreffen der beiden Musiker ohne Frage befruchtend auf die musikalischen Dialoge aus, die durch die originellen Spieltechniken von Izmailov eine besondere Note erhielten. Der Brueckenschlag zwischen Ost und West gelang einem Trio um die Vokalistin Sainkho Namchalak, die gemeinsam mit dem russischen Perkusionisten Mikhail Zhukov und dem oesterreichischen Reeds-Spieler Georg Graf auftrat. Sainkho Namchilak ist eine musikalische Geschichtenerzaehlerin, deren mystische Gesaenge sich mit dem nicht minder mystischen Perkussionsspiel von Mikhail Zhukov mit asiatischem Hintergrund und dem in der europaeischen Musikkultur wurzelnden Spiel von Georg Graf zu exotischen Klanglandschaften verbanden.

Erst waehrend des Festivals kristallisierte sich so etwas wie eine britische Programmschiene heraus. Neben zwei eingeplanten Gruppen waren es britische Musiker, die durch kurzfristige Absagen zweier Gruppen aus Israel und aus den USA im Festivalprogramm entstandenen Luecken bravouroes ausfuellten. British Summertime Ends bediente sich aus den unterschiedlichsten musikalischen Quellen - von Folk ueber Country bis hin zum Jazz - und formte daraus ein voellig eigenstaendiges, teilweise recht skurriles Klanggemaelde, erzeugt von vier Multiinstrumentalistinen, die neben ihren Stimmen und elektronischen Tonerzeugern auch exotische Instrumente wie die japanische Shakuhachi-Floete einsetzten. Aus der Free Jazz-Ecke kommen Saxophonist Tim Hodgkinson und der Schlagzeuger und Perkussionist Ken Hyder, der auch als Vokalist in Erscheinung trat. Bei ihrem Auftritt fuehrten sie eindrucksvoll die Kunst des frei improvisierten Duo-Spiels vor, das durch den Ideenreichtum beider sehr lebendig wirkte. Als erster "Lueckenfueller" stellte sich Posaunist Alan Tomlinson mit seinem Soloprogramm vor. Er beeindruckte vor allem durch den souveraenen Umgang mit den speziell von ihm erarbeiteten Ausdrucksmoeglichkeiten auf der Posaune, dabei sein Instrument auch mal perkussiv mit dem Daempfer bearbeitend. Die zweite "Ersatzgruppe" wurde erst wenige Minuten vor dem Auftritt zusammengestellt und setzte sich aus Hodgkinson/Hyder, Sylvia Hallett von British Summertime Ends sowie Sainkho Namchilak zusammen. Das Experiment gelang, und es spricht fuer das Koennen der Beteiligten und ihre Faehigkeit, spontan auf die musikalischen Partner zu reagieren, dass Leerlauf vermieden wurde und ein gueltiges Ergebnis zustande kam.

Ansonsten war Westeuropa durch Gruppen aus der Schweiz, aus Deutschland und aus Daenemark vertreten. Fahrt Art Trio nennen sich drei junge schweizerische Musiker, in deren Spiel sich die Erfahrungen der juengsten Jazzgeschichte mit individuellem Ausdruck zu kompaktem Gruppenklang vereinten und das seine Spannung nicht zuletzt aus der rhythmischen Intensitaet bezog. Auch im Spiel des deutschen Quartetts Raum 19 schwingt staendig die Free Jazz-Erfahrung mit, waehrend gleichzeitig rockige Toene mit einfliessen. Im Spannungsfeld von Komposition und Improvisation entstanden recht sperrige Toene. Eine kammermusikalische Variante bevorzugte das New Danish Saxophone Quartet. An zeigenoessischer E-Musik orientierte Kompositionen liessen nur wenig Raum fuer improvisierte Abschnitte, den ohne Frage meisterhaft gespielten Stuecken waere etwas mehr Spontaneitaet bestimmt nicht abtraeglich gewesen.

Zweimal war Gitarristisches von der anderen Seite des Atlantik zu hoeren. John King Electric World praesentierte sich als ein in bester Hendrix-Tradition agierendes Trio, dessen aggressives, bluesgetraenktes Spiel von zahlreichen Rock-Zitaten durchsetzt war. Weniger laute Toene waren vom Sologitarristen John Bruce Wallace zu vernehmen, der in freier Improvisation die moderne Gitarrentradition aufarbeitete und unter Auslotung der technischen Moeglichkeiten seines Instrumentes in eine individuell gepraegte Klangsprache uebertrug.

Auch das Umfeld des Festivals stimmte: als Ergaenzung des Hauptprogramms zwei niveauvolle Mitternachtssessions, eine Fotoausstellung mit Werken von Andreas Liebich aus Leipzig und Alexander Zabrin aus Moskau sowie die ausgewogene Lichttechnik waehrend der Konzerte.

Vilnius'91 - spaetestens nach diesen drei Tagen im Oktober duerfte klar sein, dass diese Veranstaltung zu den bedeutendsten Improvisationsmusikfestivals in Europa zu zaehlen ist. Nach Erlangung der Unabhaengigkeit erstrebt Litauen die Annaeherung an Europa auf allen Gebieten - in der improvisierten Musik duerfte dieser Schritt nicht zuletzt dank dieses Festivals bereits vollzogen sein.

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